Evangelisch glauben (4. August 2013)

Sommerpredigtreihe "Evangelische Grundüberzeugungen"
Predigt von Pfarrer Dr. Matthias Pöhlmann
10. Sonntag nach Trinitatis, 4. August 2013
9:00 Uhr Dietrich-Bonhoeffer-Kirche, Germering
10:30 Uhr Jesus-Christus-Kirche, Germering

Evangelisch glauben

Liebe Brüder und Schwestern,

unsere diesjährige Sommerpredigtreihe ist eine Schatzsuche der besonderen Art. Die Predigerinnen und Prediger möchten Sie mitnehmen auf die Suche nach vergessenen oder nichtalltäglichen Schätzen des evangelischen Glaubens. Meine Predigt steht unter dem Pauluswort aus Röm 1,16: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist ein Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“

Der Apostel Paulus hat es selbst erlebt: Die Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen stößt in der gebildeten Welt der Griechen, der philosophierenden Intellektuellen auf Unverständnis, ja auf Widerspruch. Wir haben es eben in der biblischen Lesung (Apg 17) gehört: Es ist keine Massenerweckung, die sich bei der Areopagrede des Apostels in Athen vollzieht. Einige wenige sind es.

Dennoch hatten seine Missionsreisen in Kleinasien Erfolg: Das Evangelium gelangte nach Europa. Christenmenschen haben es in den letzten 2000 Jahren immer wieder erfahren: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Kraft Gottes und kennt keine Grenzen. Es berührt Menschen, es macht sie froh, tröstet, stiftet Gemeinschaft, setzt Menschen in Bewegung, sich für Gott und die Menschen einzusetzen. Das Evangelium wirkt weiter.

Warum evangelisch?

Liebe Gemeinde, haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt: Warum bin ich evangelisch? Was würden Sie darauf antworten? Einzelne Antworten auf diese Frage fallen heute so aus:

Eine Frau, 35 Jahre, antwortet: „In Glaubenssachen wird einem nichts abgenommen – das ist für mich evangelisch. Dies ist zum einen eine Bürde, zum anderen bedeutet es Freiheit. Für mich überwiegt die Freiheit, mitdenken und mitentscheiden zu können. Ich glaube, dass Gott so groß ist, dass wir ihn nicht in ein Korsett sperren können. Als evangelische Christin fühle ich mich stark. Das hat etwas mit Gemeinschaft zu tun und der Gewissheit, dass ich Gott hinter mir weiß. Ich möchte auch missionieren und zwar in dem Sinne, dass ich die Botschaft weitergebe, was es heißt, im Glauben zu leben.“

Ein Mann, 75 Jahre, erzählt: „In meiner Familie waren wir schon immer evangelisch. Von der eigenen Taufe über die Konfirmation bis hin zur Taufe unserer Kinder: Es war klar, dass die Kinder evangelisch getauft sein sollten. Das ist auch ein Stück Familientradition. Wenn ich mich zurückerinnere: Als Konfirmanden mussten wir viel auswendig lernen, die zehn Gebote mit Auslegung und Gesangbuchlieder. Vieles habe ich vergessen. Aber die Melodien habe ich noch im Ohr.“ 

Ein anderer Mann, 53 Jahre, antwortet: „Evangelisch zu sein heißt für mich zum einen, auf Menschen zuzugehen und sich für Gespräche Zeit zu nehmen; zum anderen sich einzumischen und klar Position zu beziehen. Oft fehlt mir in Gottesdiensten der Bezug zur Aktualität. Ich wünsche mir, dass unsere Kirche mehr gesellschaftliches Engagement zeigt.“

Eine Konfirmandin meint: „Meine Eltern sind schon lange aus der Kirche ausgetreten. Mein Vater war katholisch, meine Mutter evangelisch. Sie meinten, ich solle später mal selbst entscheiden. Als sie mich fragten, ob ich mich konfirmieren lassen will, habe ich zugestimmt. Ich weiß gar nicht, ob ich richtig gläubig bin. Ich hinterfrage sehr viel. Ich glaube schon an Gott und einen Himmel, aber die Bibel kann ich nicht wörtlich nehmen. Ich finde, in der evangelischen Kirche ist der Glaube nicht so gezwungen. Ohne Zweifel kann es eigentlich auch keinen Glauben geben.“

Einzelstimmen zur Frage „Warum bin ich evangelisch?“ Oder müsste man nicht eher fragen: Warum bin ich evangelisch-lutherisch? Genau betrachtet ist es ja so: Wahlmöglichkeiten gab es für uns nicht. Die Eltern haben es so bestimmt. Ich bin evangelisch getauft und erzogen worden. Manche verlieren die enge Bindung zur Kirche, andere identifizieren sich stark mit ihr. Begriffe wie Freiheit, Selbstverantwortung, ein Stück Tradition, eine bestimmte Prägung, weltoffen, engagiert werden dabei genannt. Ein Ort, wo man Geborgenheit, Sinn und Orientierung findet. Es sind Aussagen, die man auch bei katholischen Christen antrifft.

Nach außen hin fallen die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten ohnehin nicht ins Gewicht: Gemeinsam mit Katholiken, mit orthodoxen Christen leben und arbeiten wir zusammen. Wir pflegen gute Nachbarschaft, sind befreundet, verheiratet oder verwandt. Als Christenmenschen glauben wir an denselben Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat. Wir sind zwar in den Kirchen getrennt, aber im Glauben eins. Und doch gibt es – für mich weiterhin ein Skandal und eine schmerzliche Wunde innerhalb der Ökumene – kein gemeinsames Abendmahl. Ausgerechnet beim Mahl unseres Herrn Jesus Christus sind die Christen uneins!

Worüber streiten sich die Konfessionen eigentlich? Ist das lediglich Theologengezänk, das mit der Realität schon lange nichts mehr zu tun hat? Jede Konfession hat ihren eigenen Glaubensstil. Ich denke, jede christliche Konfession, ob katholisch, evangelisch oder orthodox, kann etwas in die Christenfamilie einbringen. Wir können viel voneinander lernen. Und deshalb ist es gut, sich darauf zu besinnen, was der Protestantismus, der evangelische Glaube, in die christliche Glaubensfamilie einbringen kann.

Evangelischer Glaubensstil

Liebe Gemeinde, Sie sind hierher in die Kirche gekommen. Bereits der Kirchenraum dieser Kirche spiegelt das evangelische Selbstverständnis wider: das Kirchengebäude, die Gestaltung des Kirchenraumes ist eher nüchtern bis karg gehalten. Im Zentrum das Kreuz, der Altar, an dem wir dann miteinander Abendmahl feiern werden, der Taufstein und nicht zu übersehen die Kanzel, wo jeweils das Evangelium des Sonntags und ein biblischer Text in einer Predigt ausgelegt wird. Es gibt Altarkerzen, die Osterkerze, keinen Weihrauch, aber liturgische Farben passend zum Kirchenjahr, jetzt zur Trinitatiszeit. Nichts soll vom Wort Gottes, vom Evangelium ablenken. Martin Luther hat dies bei der Einweihung der Schloßkapelle von Torgau, der ersten reformatorischen bzw. evangelischen Predigtstätte im Jahr 1544 so ausgedrückt: „Es soll dies Haus dahin gerichtet sein, das nicht anderes darin geschehe, denn daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang".

Die Konzentration auf die Predigt des Evangeliums, auf das Gebet, auf die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl hat den evangelischen Kirchenbau bis heute so geprägt. Von der Schlichtheit geht eine besondere Anmut aus. Darin bildet sich ein besonderer christlicher Glaubensstil ab, der auf das Hören des Wortes Gottes, auf die Predigt ausgerichtet ist.

Evangelisch sein in der Ökumene

Evangelisch bezieht sich auf das Wort Evangelium: euangelion, die frohe Botschaft, das Evangelium von Jesus Christus, in dem sich Gott als vergebender und liebender Gott ein für alle Mal zu erkennen gegeben hat. Evangelisch sein heißt auch bewusst ökumenisch sein: Auch Katholiken wollen evangelisch sein, indem sie sich am Evangelium Jesu Christi ausrichten. Und Protestanten wollen katholisch sein, indem sie sich selbst als Teil der weltweiten Jesu Christi begreifen. Christliche Identität kann nicht anders, als sich immer wieder daran zu orientieren, sich daran zu erinnern und eben diese Geschichte Jesu zu erzählen. Christliche Identität hat ihr Zentrum außerhalb ihrer selbst. Daher spielt das Evangelium von Jesus Christus eine zentrale Rolle. Christen bekennen, dass sich Gott uns Menschen zu erkennen gibt als Vater und als Schöpfer und Erhalter seiner Schöpfung, als Sohn und Erlöser in Jesus Christus und als Heiliger Geist, in dem Gott bei uns gegenwärtig ist.

Gerechtfertigt vor Gott

Ein zentraler Gesichtspunkt für die Kirchen der Reformation ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders. Diese Einsicht verdankt sich der persönlichen Erfahrung Martin Luthers, der sich intensiv mit der Bibel, mit den Psalmen und dem Römerbrief, auseinander gesetzt hat: Es ist die Erfahrung, dass der Mensch aus eigener Kraft vor Gott nie bestehen kann. Gott selbst kommt dem Menschen zuvor und spricht ihn gerecht – allein aus Gnade und allein um Christi willen. Allein im Glauben an diese Gnade wird der Mensch daher vor Gott gerecht – nicht durch fromme Werke, nicht durch religiöse Strategien. In Luthers Erfahrung spiegelt sich die religiöse Grundsituation, die jeden Menschen in der Begegnung mit Gott bestimmt – damals wie heute. Ich denke, dass die Botschaft von der Rechtfertigung höchst aktuell ist. Sie befreit den Menschen von einem steten Um-sich-selbst-Kreisen, von der permanenten Selbstbespiegelung ohne Gott. Sie entbindet den Menschen von der Verpflichtung, peinlich darauf zu achten, was er alles an religiösen oder spirituellen Höchstleistungen zu vollbringen vermag. Die Botschaften heutiger Selbsterlösungsanbieter klingen einfach: „Löse deine Blockaden, erst dann kann die göttliche Energie fließen“. Oder: „Löse dich von alten Mustern, um dann dein inneres göttliches Potential gezielt einbringen zu können.“ Die evangelische Rechtfertigungsbotschaft ist eine Absage an eine spirituell verbrämte Leistungsideologie, die in verschiedenen Bereich etwa der Esoterik oder der Psychoszene vertreten wird. Die Rechtfertigungsbotschaft widerspricht dieser religiösen Selbstoptimierungsstrategie, weil sie den Menschen überfordert und das persönliche Scheitern und Schuld ausblenden möchte.

Die Rechtfertigung des Menschen durch Christus ist eine Botschaft der Befreiung: Sie befreit den Menschen von seiner Selbstfixierung, von seiner Neigung, immer nur sich selbst zu betrachten und sich als absoluten Maßstab aller Dinge begreifen. Luther erinnert uns: Ein anderer ist`s, der genug für uns getan hat. Das ist Christus. Die Taufe ist das Geschehen und der Ort, wo dies für uns geschehen ist. Dort spricht Gott: Du bist mir recht. Nicht Leistungen, nicht Besitz, nicht Titel verleihen dem Menschen seine Würde. Vielmehr ist es so: Der absolute Wert und die unantastbare Würde eines Menschen liegen darin, dass sich Gott in geheimnisvoller Weise uns voraussetzungslos zuwendet und uns für unendlich wertvoll erklärt. Dies will im Glauben angenommen sein. Es ist ein Vertrauen, dass Gott mich liebt und mich für recht erklärt hat.

Allein die Schrift

Die Kirchen der Reformation wählten bewusst den Ausdruck „evangelisch“, um klarzustellen, dass sie nur die Bibel als Norm für die kirchliche Verkündigung betrachten, und eben nicht Konzilsbeschlüsse oder Papsterlasse, die – so die Überzeugung der Reformatoren – auch irren können, insbesondere dann, wenn sie sich nicht biblisch begründen lassen.

Die Bibel ist damit der Maßstab für unseren Glauben und für das Leben. An ihr sind alle Erfahrungen und Äußerungen des Glaubens zu prüfen. Die Bibel ist eine Sammlung von 66 Büchern. Sie besteht aus dem Alten und Neuen Testament und erzählt, welche Erfahrungen Menschen mit Gott gemacht haben, wie Gott handelt, was Er schenkt und was Er erwartet. So spricht Gott uns durch das ausgelegte Wort der Bibel an, um unseren Glauben zu wecken und uns in seine Gemeinde zu rufen.

In der Schrift findet die Christin, der Christ, alles, was zu seinem Heil notwendig ist. Natürlich ist die Bibel kein Buch, das vom Himmel gefallen ist. Sie ist nicht wortwörtlich von Gott diktiert. Denn Gott wurde Mensch und nicht Buch. Es ist Gotteswort im Menschenwort, Zeugnis von Menschen über ihre besonderen Erfahrungen mit einem Gott, der in der Geschichte, im Leben von Menschen handelt. Dessen bedient sich Gott, indem er durch dieses Wort ermutigt, tröstet und uns richtet neu auf ihn hin ausrichtet.

Die Bibel allein ist die Norm kirchlichen Redens von Gott. Die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, wie das Apostolische Glaubensbekenntnis, das wir eben gesprochen haben, ist normierte Norm. Sie weisen auf die Schrift hin und weisen in sie ein. Sie bekennen und preisen den dreieinigen Gott in einer zeitgebundenen, aber altehrwürdigen Weise. Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments ist Offenbarungsträgerin des Wortes Gottes. Darin findet ein Christenmensch alles, was er von Gott, von Jesus Christus, wissen muss. Im evangelischen Glauben findet die Bibel die höchste Wertschätzung.

Von Martin Luther stammt der schöne Satz: „Wer da diesen Mann, der da heißt Jesus Christus, Gottes Sohn, den wir Christen predigen, nicht recht und rein hat noch haben will, der lasse die Bibel in Ruhe. Das rate ich; er wird gewißlich zuschanden und wird, je mehr er studiert, um so blinder und toller.“[1]

Allein Christus

Der christliche Glaube hält sich an Jesus Christus.  Er ist der einzige Retter und Herr, dem wir zu glauben und zu gehorchen haben. „In keinem anderen ist das Heil, auch ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.“ (Apostelgeschichte 4, 12) Für die Bekennende Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus ist dies zur festen Überzeugung geworden. Und was heißt das heute? Kein Mensch, kein Guru, keine Ideologie, keine Führergestalt an die Stelle Jesu Christi treten und ihm diese zentrale Bedeutung für den christlichen Glauben streitig machen kann und darf. In Jesus Christus ist Grund und Ziel unserer Hoffnung, im Leben wie im Sterben.

Christus ist auch der Herr unserer Kirche. Das sollten Protestanten bei aller Geschäftigkeit, bei Zukunftspapieren, Zukunftskongressen und Zukunftsplanungen nicht vergessen. Und auch wir als Kirchengemeinde ebenfalls nicht: Um noch einmal Luther zu zitieren: „Wir sind es doch nicht, die die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachkommen werdens auch nicht sein; sondern der ists gewesen, ists noch und wirds sein, der das sagt: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mt 28,20).“[2] Diese Perspektive schafft Zuversicht und Mut. Sie erinnert uns an das Wesentliche. An uns allein liegt nicht die Zukunft der Kirche. Das ist entlastend und beugt einer Überforderung vor.

Liebe Gemeinde, evangelisch glauben: Das meint die Konzentration auf das Wesentliche des christlichen Glaubens: Christus allein, die Schrift, die Rechtfertigung des Sünders, die Gnade, der Glaube, die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl. Das sind Glaubensschätze, die der Protestantismus in die Familie der christlichen Konfessionen einbringen kann. An den kommenden Sonntagen können wir weitere Entdeckungen machen.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben...“ Amen.

Literatur: Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (Hg.), Was ist lutherisch. Wissenswertes für Interessierte, Hannover 42013



[1] Kurt Aland (Hg.) Lutherlexikon, Göttingen 41989, 45

[2] Ebd., 194.