Sola Gratia - Allein durch Gnade (1.9.2013)

Sola Gratia - Allein durch Gnade

Pfarrer Dr. Jan Freiwald, Jesus-Christus-Kirche Germering

Liebe Gemeinde,

am 31. Oktober 1517 steigt ein junger Mönch die Stufen zur Schlosskirche in Wittenberg empor und nagelt an die Kirchentür einige kritische Thesen zum Ablasshandel. Thesen, die eine angeregte Diskussion hervorrufen sollen. Das tun sie auch. Und wie! Schon kurze Zeit später wird überall heiß diskutiert, und als die Dominikaner den aufmüpfigen Mann namens Martin Luther wegen Ketzerei anklagen, ist das Ganze nicht mehr aufzuhalten. Denn Luther entdeckt immer mehr Dinge, die in der katholischen Kirche schief laufen: Der lateinische Gottesdienst ist für das Volk unverständlich, die Bibel nur wenigen Gelehrten zugänglich, die Politik des Papstes sehr weltlich und so weiter. Vor allem aber ärgert den Querdenker eines: dass man sich angeblich von den Strafen der Vorhölle freikaufen und so in den Himmel gelangen kann. Der berühmte Ablasshandel war nichts weiter als der Verkauf von Fahrkarten in den Himmel.

Damit aber ist das Thema gesetzt, das der Auslöser geworden ist für die gesamte Reformation: Wie komme ich in den Himmel? Das war Luthers Lebensthema. In seinen Worten: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Was muss ich tun, damit Gott mich am Ende meines Lebens nicht verdammt, sondern in sein Reich aufnimmt? Und seine Antwort: Unverdient. Allein aus Gnade, sola gratia. Sie können jetzt natürlich fragen: Warum sollte ich mich im 21. Jahrhundert dafür interessieren, was so ein Mönch vor 500 Jahren über Himmel und Hölle gedacht hat? Ganz einfach. Weil der Wunsch, in den Himmel zu kommen, der wahrscheinlich älteste Menschheitstraum überhaupt ist. Es gibt keine Religion der Welt, die nicht einen Mythos oder ein Bild dafür hätte. Dafür, dass irgendwo ein Ort existiert, an dem man Gott ganz nah ist und seinen Frieden findet. Und der größte Wunsch eines glaubenden Menschen besteht darin, dort hinzukommen. In der Bibel wird dieser Ort Himmel genannt, und Tausende von Legenden, Märchen, Romanen und Theaterstücken versuchen sich auszumalen, wie es wohl sein wird, wenn ein Mensch den Himmel erreicht. Ich wette, Sie kennen auch mindestens einen Witz, der so anfängt: Petrus sitzt an der Himmelspforte, da kommt… Wir möchten wissen, wie es im Himmel ist. Und wir möchten wissen, wie man dort hin kommt.

Wenn wir das wissen wollen, liebe Gemeinde, dann müssen wir auf unseren himmlischen Botschafter Nummer eins schauen, Jesus Christus. Er hat zeit seines Wirkens nichts anderes gemacht, als auf das Himmelreich, wie er es nannte, hinzuweisen und es zu beschreiben. Eine dieser wunderbaren Beschreibungen finden wir in der Lesung, die wir vorhin gehört haben. Der Besitzer des Weinguts, also Gott, ruft am Ende des Tages alle seine Arbeiter zusammen und gibt jedem – dasselbe, und zwar genau so viel, wie er zum Leben für einen Tag braucht. Ich stelle mir bei dieser Geschichte jedes Mal die dümmlichen Gesichter vor, die diejenigen machen, die viel mehr gearbeitet haben als die, die erst am Abend unter Vertrag genommen wurden und infolgedessen viel weniger geschuftet haben. Geht das nicht gegen unser aller Verständnis von Gerechtigkeit? Aber Gott rückt unsere Kleinkariertheit zurecht und antwortet mit diesem Spitzensatz, den wir uns alle hinter die Ohren schreiben sollten: Bist du neidisch, dass ich zu anderen genau so gütig bin wie zu dir?

Gottes Güte macht, dass wir haben, was wir brauchen. Das sagt das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Von Gottes Güte leben wir. Oder mit dem anderen altmodischen Wort: von seiner Gnade. Güte und Gnade sind dasselbe. Was ist damit gemeint? Gnade ist Hinwendung aus freien Stücken. Positive Zuwendung aus freien Stücken, das heißt unverdient, ohne Zwang, ohne Wie-du-mir-so-ich-dir-Mechanis­mus. Aus freien Stücken ist Gott gut zu uns, nur weil er eben so ist. Natürlich haben die Arbeiter im Weinberg auch gearbeitet. Aber es geht nicht darum, wie viel. Dass sie Lohn bekommen, ist allein Gnade Gottes. Sola gratia.

Wir müssen uns die Wirkung, die dieses „sola gratia“ Luthers in der Welt des 16. Jahrhunderts hatte, ungefähr so vorstellen wie wenn Sie ein Kartenhaus bauen, und jemand bringt neben dem Tisch eine Luftmine zur Explosion. Die ganze fein säuberlich durchkonstruierte Theologie des Mittelalters wurde mit einem Schlag weggeputzt. Denn die Frage, wie man in den Himmel kommt, war ja bis ins kleinste Detail beantwortet. Die Gnade des himmlischen Vaters spielte dabei schon eine Rolle, aber mit dem kleinen Unterschied, dass man sie sich erkaufen konnte. Oder sogar musste. Umsonst ist der Tod; fürs Leben, fürs ewige gar, musste man schuften. Die Hauptaufgabe der Kirche bestand darin, die verängstigten Massen zu beraten, wie man am besten den Höllenstrafen entgehen konnte und welche guten Werke, Wallfahrten, Gelübde oder Spenden hierfür nötig waren. Und dabei fleißig selbst abzukassieren. Bis heute ist es katholische Lehre, dass der Mensch sehr wohl etwas zu seinem Heil beitragen muss. Ohne gute Werke geht es nicht. Und da kommt dieser Mönch und wagt es, an die Worte Jesu zu erinnern, nach denen Gott nicht die Leistungen aufrechnet, nicht der unerbittliche Richter mit der Waage in der Hand ist, sondern der gnädige Gutsherr aus dem Gleichnis vom Weinberg, oder der gütige Vater aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der den Sohn, ganz gleich, was er angestellt hat, in seine Arme schließt, einfach weil es sein Kind ist. So dass wir so überhaupt gar nichts dafür oder dagegen tun können, dass er uns liebt.

Wenn das stimmt, dann braucht man gar keine Höllenangst und kein übereifriges Befolgen von Geboten mehr. Man muss Gott einfach nur lieb haben. Der Glaube allein macht es, nicht das Handeln. Sola fide. Diese Erkenntnis ist für Luther und für alle, die sich ihm anschlossen, eine unglaubliche Befreiung. Natürlich sollen wir ethisch verantwortlich handeln. Aber daran hängt nicht unser Heil, denn das bekommen wir geschenkt, sola gratia.

Wie kommt es, liebe Gemeinde, dass Gott so ist? Mit Luthers Worten: dass wir einen gnädigen Gott haben? Letztlich hängt alles an diesem Jesus und wie er Gott beschrieben hat. Mit Jesus kommt nämlich eine Gedankenwelt ins Spiel, die es noch nie und in keiner anderen Religion jemals gegeben hat. Und zwar die Gedankenwelt der Familie. Religion wird bei Jesus zur Familiensache. Mensch und Gott sind eine Familie, und alles, was wir tun und erleben und fühlen, was wir wollen und was wir sollen, wird im Lichte dieses einen Gedankens verstanden: Kinder Gottes sind wir, er ist unser Vater, und wir sind untereinander Geschwister. Das gibt es in keiner anderen Religion. In jeder anderen Religion wird das Verhältnis zu Gott anders definiert. Im Islam zum Beispiel ist der Mensch Diener Gottes. Im Judentum fühlt man sich zwar als erwähltes Volk, aber nicht als Kinder. Im Buddhismus und Hinduismus gibt es überhaupt keine personale Bindung zu einem Gott.

Das Familienmodell steht einmalig da in der Geschichte der Religionen, und damit auch die ganz speziell christliche Antwort auf die Frage, wie man in den Himmel kommt. Sola gratia. Wie man in den Himmel kommt, das wird üblicherweise ganz anders erklärt, und immer spielt der Leistungsgedanke eine zentrale Rolle. Im Islam ist der Grad der Erlösung nach dem Tod direkt proportional zu den erbrachten Leistungen auf religiösem und mildtätigem Gebiet. Und die fernöstliche Karmalehre bringt es erst recht auf den Punkt: Du kriegst, was du verdienst. Du bekommst im nächsten Leben genau das, was du hier erarbeitet hast oder versaut. Klare Sache. Und dagegen stehen wir da und vertrauen allein auf Gottes Gnade und können Andersgläubigen nie so recht erklären, woher diese Heilsgewissheit kommt. Ganz einfach: Wir vertrauen den Worten Jesu, nach denen Gott kein Verhandlungspartner ist, sondern souveräner Herrscher und liebender Vater in einem.

Leistungsbezogene Entlohnung gibt es in einer Familie nicht. Als würden Sie dasjenige Ihrer Kinder mehr lieben, das öfter den Abwasch macht! Gott denkt so nicht. Aber leider tun wir es, und es steckt tief in uns. Versuchen Sie mal, jemandem etwas zu schenken, was über das normale erwartbare Maß hinausgeht: Hier hast du zehntausend Euro, schenke ich dir, ich brauch’ sie nicht, und ich will sie auch nicht wiederhaben. Sofort würde der andere eine Betrugsabsicht wittern, oder es würde ihm zumindest äußerst unwohl dabei sein, das Geschenk anzunehmen. Verpflichten wollen wir uns ja auf gar keinen Fall. Das sola gratia geht also auch quer zu unserem normalen Empfinden. Vielleicht sind darum andere Religionen so attraktiv, weil man da etwas tun kann für sein Heil. Und weil dadurch Gott in gewisser Weise berechenbar wird.

Dabei ist der Gedanke der Gnade doch überhaupt nicht abwegig! Wir alle leben von unverdienter Zuwendung. Du und ich, wir sind auf Gnade ausgelegt. In unserem biologischen Betriebssystem ist sie eingebaut von Anfang an. Schau die Kinder an, die nicht fragen, wie viel Nerven sie den Eltern kosten. Schau die Eheleute oder Partner an, die einander Zeit und Zuneigung und Vertrauen schenken, ohne zu fragen: Was hab’ ich davon? Unser aller Leben hat so begonnen, darum ist es tief in uns, und darum kenne ich genug Leute, die auch als Erwachsene geradezu stolz darauf sind, Dinge ohne Gegenleistung zu tun: Das macht doch das Leben aus!

Eins muss man allerdings zugeben: Verbindlich ist das Familienmodell schon. Aus einer Familie kommst du nicht raus. Kein Tag deines Lebens vergeht, an dem du nicht Kind deines Vaters im Himmel bist. Das überfordert viele Menschen. Da halte ich mir doch lieber Gott als Geschäftspartner so ein bisschen auf Abstand, als dass ich zu ihm „Papa“ sage. Oder ich halte mir die Entscheidung offen, ob ich an ihn glauben will oder nicht. Dabei haben wir keine Wahl. Als aufgeklärte freiheitsliebende Menschen hätten wir sie gerne. Aber wir haben sie nicht. Wir können uns nicht für oder gegen Gott entscheiden. Genauso wenig, wie sich ein Kind für oder gegen seine Eltern entscheiden kann. Es wird in eine Familie hineingeboren. Sola gratia. Darum ist die Rede von der Entscheidung zum Glauben, die man oft hört, auch von Eltern: „Ich lasse meine Kinder nicht taufen, damit sie sich später selbst entscheiden können“, das ist christlicher Humbug. Dass ich ein Kind Gottes bin, ist nie meine Entscheidung, wenn, dann Gottes Entscheidung. Sola gratia. Ich kann sie nur annehmen oder mich gegen sie sträuben, manchmal mein Leben lang. Ignorieren geht auch. Aber eine Wahl habe ich nicht. Denn zu Gott Vater sagen, sich seiner Güte anvertrauen, sich so benehmen, wie es einem Kind Gottes entspricht, das ist Glaube. So ein Glaube hat Höhen und Tiefen, aber wer diesen Glauben hat, der wird versuchen, sich der Liebe Gottes würdig zu erweisen. Und wo das geschieht, da ist Gnade. Amen.